Oma Friedel
„Ich sag Dir, eine solche Blütenpracht hier, grandios!! Und die Luft so sauber. Kolossaler Wechsel gegen unsere rußige.“
Wenn ich meine Oma Friedel besuchte, schaltete sie den Fernseher ab. Manchmal machte sie eine Flasche Moselwein auf. Dann unterhielten wir uns einen Abend lang.
Ich fand alles an ihrem Leben interessant. Anfang der 1920-er Jahre arbeitete sie „auswärts“ in einem Hotel in Wiesbaden. In der mondänen Bäderstadt hielten sich damals viele russische Adelige im Exil auf. Überall waren sie zu sehen und zu hören, mit ihren großen Pelzmänteln, ihrem funkelndem Goldschmuck, ihrer fremden Sprache.
Oma Friedel war Bankkauffrau und Hausfrau. Sie zog zwei Kinder groß, erlebte zwei Weltkriege und schließlich Opas schweren Unfall im Bergwerk.
Ich mochte sie. Ich hörte ihr gern zu. Sie erzählte mir längst nicht alles, behielt manches für sich, deutete mal etwas nur an. Ich war damals Student. Oma Friedel war für mich die erste, die mir vermittelte, wie spannend eine Lebensgeschichte sein kann. Obwohl das gar nicht ihre Absicht war.
Später, viele Jahre später, tauchten aus ihrer Zeit in Wiesbaden Briefe an eine Cousine auf.
Friedel war damals ein junges Mädchen und zum ersten und letzten Mal für längere Zeit von Zuhause weg – in der großen, weiten Welt.
„Heute war ich mit einer meiner Kochkameradinnen, Henny, in der Stadt. Es war sehr schön, Kurhaus, Brunnen, Theater, Rathaus und sonstigen Sehenswürdigkeiten besucht und durch Kurp. gewandert. Ich sag Dir, einfach herrlich ist Wiesbaden. Meine Erwartungen sind noch überaus angenehm übertroffen worden.“
Friedel war von allem begeistert. Sie schrieb ausnahmsweise krakelig, auf dem Knie oder auf der Bettkante, und ich kann mir das Gekicher um sie herum lebhaft vorstellen. Es berührt mich, diese Briefe meiner Oma heute in der Hand halten zu können.
„Wir haben seit ½ 10 im Damensalon getanzt. Jetzt will ich Dir noch etwas über die andern Kochstudenten, wie wir hier genannt werden, erzählen, liebe Martha. Die Älteste ist die Minna aus Frankenthal, Pfalz, 23 Jhr. Ein sehr nettes Mädel. Sodann meine Stubengenossin Elisabeth aus Morchheim (Pfalz). Ein ganz nettes Mädel! Dann kommt unser Spaßvogel Bertel, die kann ich am besten leiden. Ebenfalls 21 Jhr. aus Pirmasens. Sie verschaffte mir hintenrum Plätzchen u. Kuchen. Ein goldiges Mädel. Ich glaub, ich hab in der kurzen Zeit hier schon mindestens 2 Pfund zugenommen. Ich bin auch noch ganz zappelig vom Tanzen her. Also Schluß! Gute Nacht! Mit Gruß und Kuß Friedel.“
Und Berthel kritzelte an den Rand: „Friedel geht es sehr gut, sie blüht auf wie eine Rose.